Eigentlich trinkst du doch gar nicht so viel. Und die sechs Wochen Pause vor Ostern hast du auch geschafft. Aber ganz ehrlich, auf die Flasche Rotwein danach hast du dich wirklich gefreut, im Grunde schon seit dem Tag, an dem du mit dem Alkohol aufgehört hast. Oder auf das schöne Weizenbier, das frisch gezapfte Pils… Und der Rest des Jahres ohne Alkohol? Geht gar nicht. Nächste Woche ist der Geburtstag deiner besten Freundin, und das gibt jedes Jahr eine mega Party. Da kannst du unmöglich fehlen. An diesem Abend nichts trinken? Unmöglich. Übernächste Woche hast du ein paar Leute zum Essen eingeladen. Dazu gibt es immer Wein, immer. Aber ausgerechnet du sollst dann nichts trinken? Wie willst du das erklären? Essen gehen im Restaurant, ohne eine Flasche Wein zu bestellen? Und der Urlaub in ein paar Wochen. Ohne Sundowner an die Bar? Ohne das eiskalte Bier am Strand? So ein langweiliges Leben? Ohne mich.
So ging es mir schon lange vor meinem Alkoholentzug. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ein Leben ohne Alkohol aussehen könnte. Bei jeder Gelegenheit gab es Alkohol. Und ich konnte einfach nicht ablehnen. Wie auch? Was sollte ich sagen?
All das sind Gedanken, die sich nur Menschen machen, deren Alkoholkonsum ein gesundes Maß längst überschritten hat. Ein gesundes Maß wäre ab und zu ein Glas Wein oder ein Bier, und das vor allem nicht täglich. Im Grunde ist schon die Frage: „Trinke ich zu viel?“ ein Alarmzeichen. Um herauszufinden, ob es sich schon um eine Abhängigkeit handelt, gibt es verschiedene Kriterien:
Wunsch oder Zwang
Ich muss etwas trinken. Jetzt. Ich habe das dringende Bedürfnis nach einem Schluck Alkohol oder einem Drink. „Ich brauche jetzt ein Bier!“ kann schon dazugehören. Klappt das dann nicht sofort oder in absehbarer Zeit, sagen wir innerhalb von fünfzehn Minuten, sinkt die Laune ganz tief in den Keller. Diese Abhängigkeit kann auch nur psychisch sein. Es muss noch gar keine körperliche Abhängigkeit mit Zittern oder Schweißausbrüchen, wenn der nächste Schluck eben nicht kommt, eingetreten sein.
Kontrollverlust
Der Klassiker und schon für sich genommen klares Zeichen für die Abhängigkeit: der Kontrollverlust. Man trinkt abends doch etwas, obwohl man sich morgens vorgenommen hatte, es nicht zu tun. Man kommt aus dem Supermarkt mit zwei Flaschen Wein, obwohl man es nicht wollte. Man trinkt abends mehr, als man wollte. Aus dem „einen Glas“ wird eine Flasche. Es ist leichter, gar nicht zu trinken als ein Bier oder ein Glas Wein zu trinken. Man trinkt immer weiter, obwohl man eigentlich schon bedient ist.
Unfähigkeit zur Abstinenz
Der Zwang, immer wieder zu trinken, und der Kontrollverlust führen dazu, dass man nicht abstinent bleiben kann, obwohl man es sich fest vorgenommen hatte. Hierzu gehört auch, dass man nach einer gewissen Zeit, die man sich auferlegt hatte, um komplett auf Alkohol zu verzichten – von Montag bis Donnerstag, von Aschermittwoch bis Ostern, drei oder sechs Monate – wieder genau so weitermacht wie vorher und schnell wieder in die alten Verhaltensweisen rutscht. Dieses Mal nach dem Motto: „Wieso, ich habe doch sechs Monate lang nicht getrunken!“ Dann kann man im Brustton der Überzeugung sagen: „Ich trinke nur zum Spaß und kann jederzeit aufhören, wenn ich will.“ Das ist eine für Alkoholiker typische Bagatellisierung, also das Kleinreden des eigenen Trinkverhaltens. Währenddessen nistet sich die Abhängigkeit in aller Gemütlichkeit im Belohnungszentrum ein. Dabei sind schon Trinkpausen ein Zeichen dafür, dass der Alkoholkonsum bereits kritisch ist.
Selbst wenn alle drei bisher genannten Kriterien erfüllt sind, kann diese Alkoholikerin häufig noch ihren Job machen und sozial integriert sein. Mit Hilfe von Pfefferminzbonbons, Anstrengung, List und Tücke vertuscht man das Problem und versucht, so gut wie möglich zu funktionieren. Oft sind es andere, die einen auf den übermäßigen Alkoholkonsum ansprechen, und genauso oft wehrt man sich mit Händen und Füßen, ein Alkoholproblem zu haben. Man befindet sich dann in der Phase der Verleugnung des problematischen Trinkverhaltens.
Toleranzbildung
Mit der Zeit gewöhnt sich der Körper daran, dass er immerzu viel Alkohol abbauen muss. Die Leber erbringt Höchstleistungen, um mit den großen Mengen fertig zu werden. Gleichzeitig braucht das Belohnungszentrum immer mehr Alkohol, um in Stimmung zu kommen. Jemand, der drei Gläser Wein oder sechs Biere trinken kann, hat seinen Körper schon an so große Mengen gewöhnt, die bei anderen Menschen zu einer schweren Alkoholvergiftung führen würden. Genauso ist es bei jemand, der mit 1,8 oder mehr Promille seinen Führerschein verliert. Ein Mensch, der nicht an einen dauerhaft hohen Alkoholkonsum gewöhnt ist, würde in diesem Zustand tot über dem Lenkrad hängen.
Auch wenn alle vier Kriterien erfüllt sind, kann es immer noch sein, dass der Alkoholiker ein relativ normales Leben führt. Es ist sogar möglich, dass er nur abends trinkt, dann aber ziemlich viel in sehr kurzer Zeit. Während der Nacht, die der Körper eigentlich zur Regeneration bräuchte, wird in Hochgeschwindigkeit der Alkohol abgebaut. Morgens ein Aspirin eingeworfen – oder schon abends zwei vor dem Ins-Bett-gehen – und das Leben kann weitergehen.
Ich habe es bis zu diesem Punkt geschafft, körperliche Entzugserscheinungen hatte ich nie. Das bedeutet einfach, dass ich zwar schon längst alkoholabhängig, aber körperlich noch relativ gesund war. Wenn man – bis auf einen ausgewachsenen Kater – keine Entzugserscheinungen hat, kann man allerdings auch leicht zu der Meinung gelangen, och, so groß ist mein Alkoholproblem ja gar nicht. Habe ich vielleicht doch keins? Haha. Bagatellisierung, siehe oben.
Entzugserscheinungen
Jetzt wird es wirklich ernst. Wer schon Entzugserscheinungen hat, braucht nicht mehr zu fragen, ob er oder sie Alkoholikerin ist. Wenn man ohne Alkohol nicht mehr schlafen kann oder Schweißausbrüche bekommt, wenn die Hände zittern oder man sich fühlt wie mit einer schweren Grippe, wenn der Kreislauf zusammenbricht oder gar Halluzinationen auftauchen, dann ist der Notarzt angesagt, und zwar so schnell wie möglich. Wer in diesem Zustand einen „kalten Entzug“ machen will, begibt sich in Lebensgefahr.
Selbst wenn alle diese fünf Kriterien erfüllt sind, glauben manche Alkoholikerinnen noch nicht daran, dass sie ein Problem haben. Morgens einen Flachmann eingesteckt und vor der Arbeit schnell ein paar Schlückchen runtergespült. In der Mittagspause kurz im Supermarkt vorbeigehuscht – dort ist man schon darauf eingestellt und hat das Angebot für Alkoholiker direkt in Blickhöhe vor der Kasse positioniert. Als Alibi noch ein Sandwich oder einen Salat, den man in den nächsten Mülleimer schmeißt, aufs Kassenband dazu gelegt, und wieder zurück ins Büro. Jetzt dauert es nicht mehr lange, bis der Chef ankommt und einen vor die Wahl stellt: Therapie oder Kündigung.
Rückzug
Wenn sich jemand aus dem Sozialleben zurückzieht, um seiner Sucht nachgehen zu können, das heißt, sich hauptsächlich mit der Beschaffung und dem Konsum von Alkohol zu beschäftigen, möglichst ohne dass jemand dabei zusieht, dann liegt definitiv eine schwere Suchterkrankung vor. Meistens sind der Partner und die Kinder längst davongelaufen. Oder sie sind coabhängig und versuchen, die Sucht der Mutter oder oder des Vaters zu vertuschen und leiden schwer darunter. Oft kann die Wohnung nur deshalb gehalten werden, weil sie vom Amt bezahlt wird. In diesen Fällen passiert es oft, dass die Nachbarn oder die Kinder den Notarzt rufen, weil sie irgendwie mitbekommen, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Und häufig macht der Kandidat nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus genau so weiter wie vorher, weil er keine Freunde und keine Lebensperspektive mehr hat.
Diese Kriterien gelten auch für alle anderen Substanzen, von denen man abhängig werden kann, und vergleichbar für nicht substanzgebundene Süchte wie Spielen, Online- oder Kaufsucht.
Offiziell liegt eine Abhängigkeit vor, wenn über einen längeren Zeitraum drei dieser Kriterien erfüllt sind.
Weitere Informationen bei Netdoktor und der Deutschen Suchthilfe.
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