Schon als Jugendliche waren Verbote für mich gewissermaßen eine Einladung, genau das zu tun, was verboten war. Du darfst nicht auf der Schultoilette rauchen? Natürlich sofort auf der Schultoilette geraucht, mit all den anderen, die glaubten, sie wären besonders cool. Ein paar Jahrzehnte später wäre ich froh gewesen, mit diesem Blödsinn niemals angefangen zu haben. Oder heute: Du darfst keine Schokolade essen? Sofort wird Schokolade zum Objekt der Begierde. Genauso ist es auch mit Alkohol. Der Satz: „Du darfst keinen Alkohol trinken!“ ist so ungefähr der einzige Satz, den ein Alkoholiker niemals zu sich sagen sollte. Bei mir löste das sofort Suchtdruck aus, jedenfalls am Anfang meiner Abstinenz. Heute nicht mehr, aber trotzdem sage ich immer noch: „Ich will keinen Alkohol trinken“ und nicht „Ich darf keinen Alkohol trinken.“ So ist es eine bewusste Entscheidung, und ich empfinde dabei keinen Verlust. Der Alkohol, und insbesondere die verheerende Wirkung, die er hinterlässt, fehlt mir nicht. Ganz im Gegenteil. Ich bin auch heute noch froh, dass ich jeden Morgen frisch und voller Energie in den Tag starten kann, dass ich in der Regel super schlafe, dass ich keinen Kater habe, dass ich bessere Beziehungen habe und dass ich weniger gestresst bin. Und es gibt bestimmt noch viele andere Gründe, die mir nur gerade nicht einfallen.
Aber muss man erst Alkoholikerin werden, um Abstinenz zu schätzen? Oder liebt man von vornherein das Klare, das Wache, den Zustand der Präsenz im Augenblick, das fokussiert sein auf eine Aufgabe, auf einen anderen Menschen, auf das Leben? Ich glaube, es wird zunehmend zu einem Trend, nüchtern zu sein und sein Leben ohne Dauerkater zu genießen. Immer mehr Menschen entschließen sich, fortan keinen Tropfen Alkohol mehr zu trinken, weil es ihnen dadurch einfach besser geht.
Die Journalistin Ruby Warrington hat zu diesem Thema ein Buch geschrieben und es Sober Curious genannt. Leider im Moment nur auf Englisch erhältlich. Auf Deutsch heißt es Nüchtern neugierig. Glückseliger Schlaf, klarerer Focus, unbegrenzte Präsenz und tiefe Verbindung, die uns jenseits des Alkohols erwarten. Mit diesem Titel ist schon fast alles gesagt.
Hier ein Interview mit Ruby Warrington in ZEIT Campus.
Die Autorin hat im Laufe ihrer Nüchternheit festgestellt, dass sie nicht alkoholabhängig ist. Das fand sie durch ein paar Meetings bei den Anonymen Alkoholikern heraus. Sie ist in der Lage, ohne Probleme auf Alkohol zu verzichten, trinkt also nicht zwanghaft. Allerdings stellt sie die Theorie auf, dass jeder, der täglich Alkohol trinkt, „ein bisschen“ alkoholabhängig ist. Dem kann ich zustimmen, denn es gibt eine lange Phase, während der man zwar viel Alkohol trinken kann, aber noch nicht abhängig ist. Würde man in dieser Phase zum Beispiel ein oder zwei Jahre abstinent bleiben, könnte man die echte Sucht möglicherweise noch verhindern. Aber bitte keinen Versuch starten, wenn die Diagnose Alkoholabhängigkeit bereits gestellt ist.
Warrington, Mitte dreißig, erzählt, wie sie nach einem Yoga-Wochenende zum ersten Mal seit ewigen Zeiten nüchtern in die Woche startete und einen eklatanten Unterschied zu einem Montagmorgen nach ihren nächtlichen „Sauftouren“ am Wochenende feststellte. Von dieser Klarheit und und dem seelischen und körperlichen Wohlgefühl wollte sie mehr. Deshalb hörte sie komplett auf, Alkohol zu konsumieren. Sie beschreibt eindrücklich ihre boozestory (Geschichte ihrer Trinkgelage), und ich muss zugeben, dass ich mich darin durchaus wiederfand. Ganz ähnlich ging es mir nämlich, als ich noch eine „funktionierende Alkoholikerin“ war und niemals auf die Idee gekommen wäre, überhaupt Alkoholikerin zu sein. Als ich nicht nur am Wochenende, sondern praktisch jeden Abend Alkohol trank, wenn auch manchmal nur zwei Gläser, und am nächsten Morgen leicht benebelt aufwachte und erst mal einen starken Kaffee brauchte, zum halbwegs zu mir zu kommen. Um dann vermeintlich frisch und munter zur Arbeit zu gehen. Ich fand das alles normal.
Ganz ehrlich, diese Journalistin spricht mir aus dem Herzen. Ich sage ja schon lange, das Abstinenz keine Strafe, sondern ein Gewinn an Lebensqualität und Lebensfreude ist, den man sich als Noch-Trinker gar nicht vorstellen kann. Wir erfahren ein neues Selbstwertgefühl. Wir lernen uns wieder kennen, wie wir einmal waren. Echt. Klar. Frei. Aber mit der Erfahrung und dem Bewusstsein, die wir durch das Erlebte bekommen haben. Wir werden wieder neugierig auf uns selbst, auf andere, auf das Leben. Und das ist ohne Alkohol so viel schöner.
Zitat aus Sober Curious, von mir frei übersetzt: „Einige meiner wichtigen Fragen waren: Würde mein Leben besser werden ohne Trinkgelage? Was ist ’normales Trinken‘? Warum ist Alkohol … überall? Wie würde es sein, nie mit einem Kater aufzuwachen? Das Ziel dieses Buchs ist es, dir zu helfen, deine eigenen Antworten auf Fragen wie diese und weitere zu finden – Fragen, die du dir erst stellen wirst, wenn du aus voller Überzeugung deinen eigenen Nüchtern-neugierig-Weg eingeschlagen hast.“ Für die Autorin ist es sehr wichtig, dass problematisches Trinken und Alkoholabhängigkeit nicht dasselbe sind. Sie legt großen Wert darauf, dass auch nicht alkoholabhängige Menschen den großen Wunsch haben können, keinen Alkohol zu trinken. Abstinenz als Lifestyle eben.
Warrington gründete auch den Club SÖDA NYC in New York City. Ein Club für junge, schöne, coole, stylische Menschen aus der New Yorker Upper Class. Na, ja. Sie wollen abstinent leben, dagegen ist nichts einzuwenden. SÖDA bedeutet „Sober or Debating Abstinence“ . Nüchtern sein oder Abstinenz erwägen. Warum sie aus dem O ein Ö gemacht haben, ist mir ein Rätsel. Auf der Startseite steht die Frage: „Was, wenn es cool wäre, nichts zu trinken?“ Sag ich doch. Im SÖDA Club treffen sich Leute, die ausgehen, tanzen und gemeinsam Dinge unternehmen wollen, ohne Alkohol zu trinken oder mit Alkohol konfrontiert zu werden. Denn alkoholisierte und nüchterne Leute haben irgendwann keine gemeinsame Wellenlänge mehr. Ist eben so. Klar: Der Alkohol verändert die Wahrnehmung, wirkt enthemmend und euphorisierend. Die Nüchternen dagegen bleiben, wie sie sind. Das passt ab einem gewissen Level einfach nicht mehr zusammen.
Jetzt kommen natürlich viele, die sagen: Klar, wenn sie nicht mehr trinken, fangen sie an zu missionieren, genau wie die Ex-Raucher, die zu militanten Nichtrauchern mutieren. Ganz schlimme Leute, das. Zugegeben, als ich noch gequalmt habe wie ein Kamin und dazu einen Rotwein nach dem anderen getrunken habe, als ich morgens oft noch mit einem ausgewachsenen Kater aufgewacht bin und kaum aus dem Bett kam, da dachte ich genau dasselbe. Hat sich in diesem Zustand schon mal jemand gefragt, dass wir geradezu darauf getrimmt werden, überall und zu jeder Zeit Alkohol zu konsumieren? Dass uns ständig und überall suggeriert wird, das Leben würde erst richtig schön mit einem kalten Bier, einem prickelnden Sekt oder einem Glas Rotwein? Mal ganz abgesehen davon, dass das der Industrie und sogar dem Staat ganz recht ist, wenn wir so viel wie möglich saufen, sorry, weil beide damit immense Summen verdienen.
Nein, ich will nicht missionieren. Aber als Mensch, der keinen Alkohol trinkt, steht man häufig als Spaßbremse da, was gern mit missionieren verwechselt wird. Doch immer mehr ganz normale Leute ohne jedes Alkoholproblem sind genervt, dass es überall und jederzeit Alkohol gibt oder geben muss. Für Leute wie uns, die lieber nüchtern sind, bleibt zu hoffen, dass ein Lifestyle ohne Alkohol in Zukunft mehr akzeptiert wird und man als Nicht-Trinkerin nicht länger der schräge Vogel bleibt. Dass es mehr Veranstaltungen gibt, bei denen kein Alkohol ausgeschenkt und daher alle gleich nüchtern sind. Das man mal wieder tanzen gehen kann, ohne sich mit Alkohol enthemmen zu müssen.
Denn nüchtern ist das neue cool. Oder?