Endlich wird man mal nicht erzogen, jubelt die Süddeutsche Zeitung: „Was für ein Glück, dass es überhaupt noch Filme wie diesen gibt in unserer Zeit. Filme, die ihre Zuschauer als erwachsene, mündige Bürger ansprechen, die schon wissen werden, wie sie etwas einzuschätzen haben.“ Subtext: Endlich schimpft uns mal keiner mit erhobenem Zeigefinger aus, weil wir uns so gern einen brennen. Der SPIEGEL fragt erfreut: „Ist Alkohol doch eine Lösung?“ Und lobt das „wunderbar unmoralische Kinoereignis“. Die ZEIT stellt erleichtert fest, dass es gar nicht um Alkohol, sondern um Freundschaft geht.
Jawohl, hoch die Tassen! Endlich wieder Spaß. Endlich keine moralinsauren Hinweise mehr darauf, wie gefährlich Alkohol ist.
Seit vielen Jahren habe ich nicht mehr so große Mengen Alkohol in so kurzer Zeit gesehen wie in Thomas Vinterbergs Film „Der Rausch“. Frisch abstinenten Alkoholiker*innen würde ich den Besuch des Films auf keinen Fall empfehlen.
Es geht los mit dem jährlichen „Kastenrennen“ an einer dänischen Schule. Ein Trinkritual, das von den Schülern mit Begeisterung durchgezogen wird: Sie müssen zu zweit einen Kasten Bier um den See schleppen und ihn während des Rennens komplett leer trinken. Da gibt es Profis und Amateure. Bei letzteren geht die Begeisterung schnell in synchrones Kotzen über, das gibt allerdings Punktabzüge.
Währenddessen erstarrt der Geschichtslehrer Martin in seiner Midlifecrisis. Langeweile, wo man hinschaut. Im Lauf des Films stellt sich heraus, dass er früher ein Alkoholproblem hatte und seither abstinent ist. Wie schrecklich! Da ist ja gar nichts mehr vom Leben übrig, wenn man sich nicht mehr berauschen kann. Der Mann ist knochentrocken, vollkommen spaßbefreit, langweilt seine Schüler bis in den Tiefschlaf, hat eine kommunikative Ladehemmung und muss erleben, dass auch seine Frau sich nicht mehr für ihn, sondern nur noch für ihre Nachtschichten oder besser für ihre außerehelichen Aktivitäten interessiert. Hinter dieser Langeweile schimmert bei Martin eine tiefe Traurigkeit durch, grandios gespielt von Mads Mikkelsen. Ist es eine Depression? Wir wissen es nicht, über die Ursache werden wir im Unklaren gelassen.
Beim Geburtstagsessen unter Freunden kommen sie auf die Idee mit dem Trinken. Der norwegische Psychiater Finn Skåderud, real existierender Professor an den Universitäten Oslo und Lillehammer, vertritt angeblich die These, der Mensch sei mit 0,5 Promille Alkohol zu wenig im Blut geboren. Ein paar Schlückchen Alkohol hier und da sollen demzufolge das Leben auf eine neue Stufe heben und die Spaßbremse lösen. Nicolai wird an diesem Tag vierzig, er lädt seine drei Freunde in einem Restaurant zum Essen ein und lässt auffahren – Champagner, Wodka, edlen Rotwein, nebenbei fällt die Bemerkung, dass seine Frau reich ist. Martin trinkt zunächst Wasser, weil er angeblich noch Auto fahren muss. Ohne Zitrone. „Schade, dass du so vernünftig bist!“, lautet der Kommentar von Nicolai dazu. Doch irgendwann haben sie ihn soweit. Das erste Glas Rotwein stürzt er in einem Zug hinab.
Mit zunehmendem Alkoholpegel wird die Unterhaltung angeregter, lauter, lustiger. Man scherzt und beschließt, das Experiment zu wagen: Ab dem nächsten Tag wollen die vier Freunde dafür sorgen, immer 0,5 Promille Alkohol im Blut zu haben.
Achtung, Triggerwarnung: Von nun an werden in diesem Streifen unglaubliche Mengen Alkohol konsumiert. Eiswürfel klackern ins Glas, Schraubverschlüsse knacken, Korken knallen. Anleihen bei der Werbefilmindustrie werden als Stilmittel eingesetzt. Dazu ein schmissiger Soundtrack, und ab geht’s. Das Experiment funktioniert. Die Laune steigt, es wird wieder gelacht und gelebt, die Schüler sind wieder begeistert von Martins Unterricht, der auf einmal – magische Verwandlung – wieder kreativ wird, er stellt Churchill und Hemingway als versoffene Genies und Hitler als todbringenden Abstinenzler dar, Standing Ovations sind der Lohn der Tat. Der Sportlehrer, ebenfalls Mitglied der Viererbande, schafft es sogar, dass der bebrillte Außenseiter des Fußball-Teams ein Tor schießt. Wie durch ein Wunder wird das Leben wieder zum Abenteuer. Der Glimmer, das Funkeln, das Leuchten in den Augen – sie sind zurück.
Doch nach und nach kippt das Ganze. Die konsumierten Alkoholmengen steigern sich, Rektorin und Kollegium sind alarmiert, Wände sind plötzlich nicht mehr dort, wo sie im nüchternen Zustand waren, Argumente werden zu Faustschlägen und Hosen unerklärlicherweise vollgepisst. Veilchen und Platzwunden bereichern den nächsten Morgen. Das Experiment läuft aus dem Ruder. Sogar ein Opfer ist zu beklagen – der einfühlsame Fußballtrainer rutscht in die Sucht und bezahlt seine Teilnahme an diesem Experiment mit dem Leben. Selber schuld. Ein Hauch des Problems Alkohol wird damit zumindest gestreift, die Gefahren des Nervengifts lugen ein ganz kleines Stück unter dem Teppich hervor, unter den sie ansonsten gekehrt werden. Doch zum Schluss wird noch einmal richtig gefeiert, Mads Mikkelsen darf mit einer brillanten Choreographie als Tänzer glänzen, nachdem er noch einmal beherzt die Wodkaflasche an den Hals gesetzt hat.
Was für eine armselige Gesellschaft sind wir geworden, in der wir ohne Alkohol nicht mehr kommunizieren und keinen Spaß mehr haben können? In der wir ohne Alkohol nicht mehr fühlen können?
Das ist nicht etwa Thomas Vinterbergs Botschaft, sondern die Botschaft unserer Gesellschaft, unserer Zivilisation, unserer westlichen Welt. Sie lautet: Du bist nicht interessant, nicht lustig, nicht unterhaltsam, es macht keinen Spaß, Zeit mit dir zu verbringen, du bist ein Mängelwesen, also pimp dich halt auf, hier ist dein Zaubertrank, den kannst du überall kaufen. Damit du endlich wieder Gefühle hast, die guten wie Spaß, Freude und Begeisterung holst du dir mit dem Trinken, die schlechten wie Langeweile, Angst und Sorge machst du einfach weg damit. Alkohol als einfachste und ultimative Lösung, um wieder Schmackes in dein Leben zu jagen. Schalter an, Promille rein, alles schick. Wow.
Dabei haben wir doch das raffinierteste Drogenlabor in unserem Gehirn. Wir selbst sind es, die darauf Zugriff haben. Wir selbst können uns ohne jegliche Zuhilfenahme von Substanzen in Ekstase versetzen. Mit ganz bestimmten Tätigkeiten Flow-Zustände erreichen und unsere Dopaminausschüttung ankurbeln. Durch Kommunikation Verbundenheit und Nähe mit anderen Menschen herstellen und die Serotonin-Produktion steigern. Aber wie geht das nochmal? Man verlernt diese Dinge, wenn man nur noch auf sein Handy starrt, die Timeline auf Facebook oder Instagram durchscrollt, dazu Süßigkeiten in sich reinschaufelt, abends vor dem Fernseher sitzt und ansonsten seinen Arsch nicht mehr in Bewegung kriegt. Vor allem aber: Der regelmäßige Konsum von Alkohol ist die effektivste Methode, dieses geniale Drogenlabor nachhaltig außer Betrieb zu setzen.
Nicht nur für uns trockene Alkoholiker*innen ist es deshalb ausgesprochen wichtig, Rituale zu entwickeln, um das Leben zu feiern – ohne Alkohol. Feiern, tanzen, spielen, durch die Weltgeschichte hüpfen, barfuß durchs nasse Gras laufen, leben, lieben, uns mit unseren körpereigenen Drogen berauschen. Damit wir nicht emotional austrocknen wie der arme Martin in seiner Nüchternheit und nicht zu rein rational und automatisch gesteuerten, kommunikationsunfähigen Zombies werden. Wenn wir das lernen, haben wir dem größten Teil der Menschheit etwas sehr Wertvolles voraus. Denn die meisten können das Leben doch heute nur noch genießen und feiern unter Zuhilfenahme von mehr oder weniger großen Mengen – Alkohol.
So gesehen ist der Film wirklich eine messerscharfe Analyse des Status quo in einem reichen Land Nordeuropas, das übrigens auch ein Meister darin ist, sich gegen Flüchtlinge abzuschotten. Alles ist drin. Das Gute und das Schlechte. Der Rausch. Die Gefahr. Der Tod. Die alltägliche Emotionslosigkeit. Vor allem aber unsere unfassbare Verherrlichung des Alkohols.
Die richtigen Gedanken dazu müssen wir uns schon selber machen.
Cheers!
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Ich hab‘ mir als Fan von Mikkelsen den Film angesehen, als ich selbst gerade etwa 3 Monate abstinent war. Ich wusste nicht so recht, wohin damit. Getriggert fühlte ich mich zwar nicht, aber fast so etwas wie empört, weil die Aufteilung in Gut und Böse nicht stattfand. Zugegeben, das ist ein sehr naives Empfinden, aber zu diesem Zeitpunkt habe ich mir das wohl so erhofft.
Zumindest hat der Film keine Zweifel an meiner Abstinenz geschürt und mein Cineastenherz hat ein paar Freudensprünge gemacht bei so viel schauspielerischer Glanzleistung.
Ich will den Tag noch miterleben, an dem filmisch umgesetzt wird, was Abstinenz für mich bedeutet, an dem Filme über Alkoholiker nicht aufhören, wenn der Protagonist ein Einsehen hat und Entzug und Reha angeht, an dem Filme über Alkoholiker da anfangen, wo die Langzeittherapie schon Geschichte ist. Genau da fängt das Leben an. Genau da wird es spannend.
Danke für Deinen Kommentar! Genau auf diesen Film warte ich auch. Insgesamt besteht wohl noch etwas Nachholbedarf bei der Aufklärung darüber, dass Abstinenz nicht das Ende des Lebens, sondern den Anfang desselben bedeutet 🙂
Ein Wahnsinn.
Danke, dass Du hier einen Finger in die „Wunde“ (…) legst und Fragen aufwirfst.
Cool sein, angesagt sein, mitschwimmen. Von der Sonnenbrille bis zum Schuh muss alles passen, sonst bist du raus, mitsaufen ist nicht nur wichtig, sondern auch große Mengen aushalten. Sonst bist du raus.
Wer das Leben ohne nicht mehr erträgt, erträgt sich selbst nicht mehr. Und das ist bitter.
Werden wir wacher, klarer. Und begegnen einander mit offenen Herzen ❤️
Ja, das ist der Preis – aufwachen hilft, ist nur am Anfang ein bisschen anstrengender 🙂