Wo stehe ich? Etappen der Sucht.

Die Sucht zieht schon Kreise, bevor man davon die leiseste Ahnung hat. Bild von David Mark

Ich glaube, ein Alkoholproblem beginnt schon lange, bevor man überhaupt auf die Idee kommt, man hätte eins. Und das Problem zieht seine Kreise, bevor man etwas davon merkt.

Bei Einladungen zum Essen oder bei Partys gehört man zu den fröhlichen Zechern, die jede Menge Spaß haben. Beim Ausgehen trinkt man mit den anderen einen Apéritiv und dann eine schöne Flasche Wein zum Essen, oder zwei, einfach so, zum Genuss. Nach dem Essen darf es auch gern noch ein Grappa oder ein Cognac sein. Bei jedem lockeren Treffen gehören Sekt, Wein oder Bier wie selbstverständlich dazu. Man findet es normal, dass man jeden Tag seinen Wein oder sein Bier trinkt. Man ist weit entfernt davon, sich als Alkoholikerin zu sehen. Doch bei diesem Gewohnheitstrinken hat sich die Abhängigkeit meistens schon längst im Gehirn eingenistet. Nicht bei allen, das betone ich hier. Aber bei den meisten.

Nicht jeder Alkoholiker muss von hartem Alkohol abhängig sein und täglich eine Flasche Wodka, Whisky oder Korn trinken. Oder zwei. Und schon morgens damit anfangen. Nein, die meisten Alkoholiker sind wie du und ich. Ganz normale Leute. Irgendwann will man dann vielleicht mal eine Trinkpause machen, gerne von Aschermittwoch bis Ostern, und stellt überrascht fest, dass man das gar nicht kann. Aber selbst dann dauert es oft noch eine ganze Weile, bis man zugibt, ein Problem zu haben. Das ist die Phase der Bagatellisierung und Verleugnung. Jetzt ist es entscheidend, wie lange diese Phase dauert. Geht man frühzeitig zum Arzt, bevor die ersten Entzugserscheinungen eingetreten sind und man körperlich noch gesund ist? Oder wartet man so lange, bis die Krankheit chronisch geworden ist und man es ohne Alkohol keine paar Stunden aushalten kann? Ich kann jedem nur empfehlen, das nicht zu tun. Sondern so früh wie möglich einzusehen, dass man es nicht alleine schafft. Bevor der Körper so zugerichtet ist, dass er bleibende Schäden davonträgt.

Bei mir war es so, dass ich jeden Abend mehr getrunken habe, als ich wollte. Aus dem einen Glas wurden zwei. Dann drei. Dann eine Flasche. Irgendwann waren es zwei. Kontrollverlust. Doch ich habe lange nicht eingesehen, dass ich Hilfe brauche. Noch kurz bevor ich zu meinem Entzug gegangen bin, habe ich sechs Monate gar keinen Alkohol getrunken. Bitteschön, ich hatte es doch im Griff! Als wir Besuch hatten, dachte ich, okay, jetzt kann ich ja mal wieder ein Glas Wein trinken. Um innerhalb von zwei Monaten wieder auf meinem alten Level zu sein. Erst dann habe ich wirklich eingesehen, dass ich es allein nicht mehr schaffe.

Krankheitseinsicht ist ein Begriff, der in der Wissenschaft verschiedene Bedeutungen hat und kontrovers diskutiert wird. Ich verwende ihn so: Krankheitseinsicht hat jemand, der einsieht, dass er ein Alkoholproblem hat, und dieses Problem nicht mehr bagatellisiert oder verleugnet. Wenn man an diesem Punkt angekommen ist, hat man meistens schon einen mehr oder weniger langen Leidensweg hinter sich. Vielleicht hat man schon heimlich getrunken. Vielleicht hat man auch schon körperliche Symptome wie morgendliches Zittern. Aber nun ist man bereit, Hilfe anzunehmen und in eine Klinik zu gehen. Und im ersten Moment ist man tatsächlich wahnsinnig erleichtert, dass es mit dem Alkohol endlich vorbei ist.

Erst dann kann man mit der Therapie beginnen. Ohne Krankheitseinsicht macht das überhaupt keinen Sinn. Der Wunsch nach Therapie und Veränderung muss vom Patienten selbst kommen. Und er muss selbst die Entscheidung treffen, abstinent zu werden und sich dabei helfen zu lassen.

Deshalb hat es überhaupt keinen Sinn, Angehörige oder Freunde zum Entzug oder zur Therapie überreden zu wollen. Man kann höchstens vorsichtig darauf hinweisen, dass das mit dem Alkohol vielleicht ein bisschen viel ist. Oder Informationsmaterial herum liegen lassen. Oder zu einer Selbsthilfegruppe für Angehörige gehen. Und wenn gar nichts mehr hilft, kann man es noch damit versuchen: „Entscheide dich, der Alkohol oder ich.“ Allerdings muss man dann darauf gefasst sein, dass der Kandidat sich für den Alkohol entscheidet. Für diesen Fall sollte man sich schon vorher überlegen, welche Konsequenzen man daraus ziehen wird.

Der Entschluss, sich helfen zu lassen, kann nur von der betroffenen Person selbst kommen. Versuche, jemand zur Therapie zu überreden, bringen gar nichts. Bild von Hong Zhang


Die Beiträge auf dieser Website sind keine wissenschaftlichen Abhandlungen. Ich schreibe hier über meine persönlichen Erfahrungen, äußere meine subjektive Meinung oder gebe Informationen wieder, die im Internet frei zugänglich sind. Keiner dieser Artikel kann einen Besuch beim Arzt oder Therapeuten ersetzen. Bitte nimm professionelle Hilfe in Anspruch, falls du ähnliche Erfahrungen gemacht hast oder glaubst, von einer der erwähnten Erkrankungen betroffen zu sein.


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